Kapitel 6
Adelaide lehnte sich über das Geländer der Veranda und winkte ihren Begleiterinnen zum Abschied. Mrs Carmichael saß regungslos in der Kutsche, doch Miss Oliver erwiderte die Geste, ihre vornehme Miene ungetrübt. Mr Westcott verabschiedete sich gerade von seinem Freund und klopfte ihm zum Abschied auf den Rücken, bevor Mr Bevin auf den Kutschbock kletterte. Anscheinend wollte er dieses Mal nicht mit den beiden Damen im Inneren der Kutsche reisen. Als die Pferde sich in Bewegung gesetzt hatten, nickte er ihr noch einmal zu. Ihr. Adelaide Proctor. Der neuen Hauslehrerin. Die Wirklichkeit drang nur sehr langsam in ihr Bewusstsein.
Mr Westcott stand im Hof und sah der Kutsche nach, während Adelaide ihn beobachtete. Der Mann schien zwei völlig unterschiedliche Charaktere zu haben. Tagsüber war er ein Arbeiter, der Baumwollhemden und grobe Hosen trug, mit trächtigen Mutterschafen rang und die Pferde seltsamer Frauen tränkte. Aber am Abend verwandelte er sich in einen Adligen mit Seidenkrawatte, geschliffenen Umgangsformen und kultiviertem Charme. Vor dem hart arbeitenden Mann hatte Adelaide großen Respekt, doch der englische Gentleman brachte ihr Herz zum Flattern, weil er jeden Helden verkörperte, über den sie jemals gelesen hatte.
Er war gut gebaut und groß gewachsen, aber nicht zu groß. Sein dunkles Haar trug er kurz, seine Augen hatten die Farbe von geschmolzener Schokolade. Aber es war sein Lächeln, das sie gefangen genommen hatte. Er hatte Grübchen, die ihm einen so freundlichen Gesichtsausdruck verliehen, dem sie unmöglich widerstehen konnte.
Als er am letzten Abend den Empfangsraum betreten und ihr zum ersten Mal in die Augen geschaut hatte, seit sie aus dem Stall vor ihm geflohen war, hatten seine Augen sie schelmisch geneckt und ihr die Hitze in die Wangen, vor allem aber ins Herz getrieben. Sie hatte sich wie Jane Eyre gefühlt, die in Thornfield ankommt, um ihre Position als Gouvernante der jungen Adèle einzunehmen. Nur dass Jane Mr Rochester nicht dort vorgefunden hatte. Ein sehnsüchtiger Seufzer entfuhr ihr, als sie in ihrem Tagtraum versank. Doch plötzlich wurde sie von Mr Westcotts Schritten jäh aus ihrer Schwärmerei gerissen.
Adelaide wandte sich schnell um, um ihn nicht ansehen zu müssen. Ihr Herz pochte im gleichen Rhythmus wie ihr schlechtes Gewissen. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, von ihrem Arbeitgeber dabei ertappt zu werden, dass sie ihn anhimmelte. Hatten ihre romantischen Allüren ihr nicht schon genug Probleme eingebracht? Außerdem lächelte Mr Westcott sowieso viel zu herzlich, um die Rolle des düsteren und grübelnden Rochester zu spielen. Und ihre eigene impulsive Natur konnte wohl kaum mit der ruhigen und anständigen Jane konkurrieren, die mehr mit den Augen als mit dem Mund sprach.
Sie war hier auf Westcott Cottage, um ihre Arbeit zu machen, nicht um ihr Lieblingsbuch nachzuspielen. Isabella verdiente das Beste, was sie geben konnte. Gott hatte sie hierher geführt, um diesem kleinen Mädchen zu helfen. Am besten verdrängte sie ihre Tagträume sofort in den hintersten Winkel ihrer Seele.
„Wenn Sie so freundlich wären, mich in mein Büro zu begleiten, Miss Proctor, würde ich Sie gerne mit Ihren Aufgaben vertraut machen.“
Adelaide zwang sich dazu, ihm in die Augen zu schauen. Er lächelte sie an und brachte dabei wieder seine Grübchen zum Vorschein, die ihre ohnehin angespannten Nerven noch weiter strapazierten. Solche Dinge waren tödlich für die Konzentration einer Lady. Sie stemmte die Hände in die Hüften und kniff sich, bis die Atemlosigkeit endlich aus ihrer Brust wich.
„Natürlich“, sagte sie und war froh, dass ihre Stimme ganz normal klang.
Er führte sie in sein Büro, das im hinteren Bereich des Hauses lag. Dunkle Walnussmöbel beherrschten den Raum, eine komplette Wand wurde von einem Bücherregal eingenommen. Weiche Oliv- und Cremefarben in den Bezügen der Sitzmöbel, des Teppichs und der Vorhänge nahmen der Einrichtung ihre Schwere. Auf der hellen Tapete mit den goldenen Mustern spiegelten sich die wenigen Sonnenstrahlen, die in den Raum drangen. Etwas von Adelaides Anspannung verschwand. Das hier war ganz offensichtlich das Zimmer eines Mannes, doch es war trotz allem sehr einladend. Das war ein Segen. Mit ihrem neuen Arbeitgeber unter vier Augen zu sprechen war aufregend genug, da musste sie nicht auch noch das Gefühl haben, erdrückt zu werden.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, Miss Proctor.“
Ein Sofa und zwei Sessel standen an der Wand gegenüber dem Bücherregal. Mr Westcott berührte einen der Sessel und bedeutete ihr, sich hinzusetzen. Sobald sie sich niedergelassen hatte, nahm er ihr gegenüber Platz. Zwischen ihnen stand ein niedriger Tisch, auf dem zwei in Leder gebundene Bücher lagen.
Adelaides Neugier ließ alle Sorgen über das bevorstehende Gespräch verschwinden. Sie erkannte eine schön gebundene Shakespeareausgabe. Bei dem anderen Buch handelte es sich zweifelsohne um eine Bibel.
„Ich lasse sie hier liegen, um mir immer wieder vor Augen zu führen, dass Erfolg Opfer bedeutet.“
Gerade wollte sie ihre Hand nach den Büchern ausstrecken, aber im letzten Moment konnte sie sich zurückhalten. Sittsam faltete sie die Hände in ihrem Schoß und hoffte, dass Mr Westcott nicht merkte, dass sie sich dabei fast die Blutzufuhr abschnürte.
„Ich kann verstehen, dass die Bibel von Opfern spricht“, dachte sie laut nach, „aber Shakespeare? Ich befürchte, ich sehe da keine Verbindung.“
Sein Lächeln bewies, dass sie ihn ertappt hatte. „Sie haben mich erwischt. Die Wahrheit ist bei Weitem nicht so edel, wie ich es habe klingen lassen. Diese Erinnerung ist mehr physischer als philosophischer Natur.“
„Wie das?“
„Dieses Buch war mein Begleiter in den zwei Jahren, in denen ich Schafe von Kalifornien nach Texas getrieben habe.“
„Sie haben Schafe getrieben?“
„Schwer zu glauben, nicht wahr?“
Adelaide schluckte. Schon wieder waren ihr Worte entschlüpft, die sie am liebsten wieder eingefangen hätte. Die Überraschung musste ihr ihre Manieren geraubt haben. Sie versuchte zu retten, was zu retten war. „Ich meinte nicht … Ich wollte nicht andeuten, dass Sie …“
Er wischte ihre gestammelte Entschuldigung mit einer Geste beiseite, während seine Augen tanzten. „Manchmal kann ich es selbst kaum glauben und dabei war ich doch persönlich dabei.“
Hitze stieg in ihr auf. Warum dachte sie nicht nach, bevor sie anfing zu reden? Sie biss sich auf die Zunge, bevor sie noch mehr ungebührliche Dinge sagte. Leider sorgte ihr Zögern dafür, dass die Unterhaltung abriss und sie einige Augenblicke in peinlichem Schweigen verbrachten. Endlich hatte Mr Westcott den Gesprächsfaden wiedergefunden.
„Ich bin der jüngste von drei Brüdern und immer so etwas wie ein Herumtreiber.“ Er nahm die Bibel und blätterte durch die raschelnden Seiten. „Meine Mutter hat gehofft, ich würde in die Fußstapfen ihres Vaters treten und Pfarrer werden. Ich habe es eine Zeit lang in Erwägung gezogen, mich dann aber dagegen entschieden. Irgendetwas hat mich zurückgehalten.“
„Wie sind Sie nach Texas gekommen?“
„Gerüchte.“
Sie wartete auf weitere Erklärungen, aber er saß einfach nur da und grinste sie an. Dieser Schuft. Er wollte sie dazu bringen, ihrer Neugier nachzugeben und ihn weiter auszufragen. Bestimmt war er früher derjenige von den drei Brüdern gewesen, der die anderen neckte, bis ihnen der Kragen platzte, ohne dass er selbst den Ärger bekam. Zusammen mit seinen unwiderstehlichen Grübchen hatte er bestimmt eimerweise Krokodilstränen zum Einsatz gebracht.
„Sie haben Ihre Brüder zur Weißglut gebracht, als Sie jung waren, nicht wahr?“
Peinlich berührt merkte Adelaide, dass ihr Kommentar völlig unpassend war, wenn man keine Gedanken lesen konnte. Im Moment war sie auf dem besten Wege, sich um eine Anstellung zu bringen, die sie noch nicht einmal angetreten hatte. Doch Gideon schien ihr ohne Probleme folgen zu können. Er starrte sie nicht verständnislos an, sondern seine Augen funkelten weiter verschmitzt.
„Ich habe jede Gelegenheit genutzt, die ich bekommen habe.“
Sie musste lächeln. Endlich lenkte er das Gespräch wieder zurück auf das ursprüngliche Thema.
„Es hatte sich herumgesprochen, dass man hier in Amerika mit geringen Investitionen große Gewinne erwirtschaften kann. Man müsste einfach nur Land kaufen, es mit Tieren besiedeln und könnte sich dann vor Reichtum kaum retten.“
„Sagen Sie mir nicht, dass Sie diesen Unfug geglaubt haben.“
Er zuckte mit den Schultern. „Nun, ich war klug genug zu vermuten, dass es doch mit einem gewissen Arbeitsaufwand verbunden sein würde, aber es hat sich einfach zu gut angehört, um die Gelegenheit verstreichen zu lassen. Mein Vater gab mir glücklicherweise nur unter einer Bedingung seinen Segen. Er würde mich anfangs finanziell unterstützen, aber nur, wenn ich die Schafzucht von Grund auf lernen würde. Ich habe eingewilligt, ohne zu wissen, was für ein harter Lehrer die Erfahrung sein kann. Aber im Endeffekt hat es sich ausgezahlt.“
Er legte die Bibel aufgeklappt zurück auf den Tisch. Adelaide konnte die kleine Schrift von dort, wo sie saß, nicht lesen, aber sie erkannte eine 23 und vermutete, dass es sich um den entsprechenden Psalm handelte.
„Ich hatte keine Ahnung, wie viele Bibelstellen es über Schafe und Hirten gibt, bis ich zwei Jahre mit diesen Viechern verbracht habe. Es hat mir einen völlig neuen Blick darauf gegeben, was der Herr für eine anstrengende Aufgabe hat und wie viel Sorgen ihm seine Herde bereiten muss.“
Gideon Westcott mochte ein Schuft sein, aber er hatte Tiefgang.
„Was ist mit Ihnen? Welche Lebensumstände haben Sie hierher verschlagen?“
Sie konnte nicht wirklich antworten, dass sie einer Wolke gefolgt war, oder? Er würde sie für verrückt halten. Stattdessen entschied sie sich für die langweiligere Version der Wahrheit. „Ich habe Mr Bevins Anzeige in der Gazette gesehen und mich beworben.“
Ihr Arbeitgeber schüttelte langsam den Kopf und schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Schämen Sie sich, Miss Proctor. Es muss eine interessantere Erklärung geben.“ Er beugte sich vor und zwinkerte. Ihr Herz stolperte. Eine Locke seines dunklen Haares fiel ihm in die Stirn. Adelaide musste sich geradezu zwingen, sie ihm nicht aus dem Gesicht zu streichen.
„Der Vorsitzende des Schulamtes in Cisco hat ein glühendes Empfehlungsschreiben verfasst. Ganz offensichtlich hätte man Sie am liebsten dort behalten. Warum also sind Sie von dort weggegangen? Reiselust? Ein nerviger Verehrer? Eine kranke Verwandte?“
Panik zog Adelaides Magen zusammen. Nicht einmal das jungenhafte Lächeln konnte ihr die Anspannung nehmen. Hatte Mr Bevin ihm von ihrem Heiratsfiasko erzählt? Sie hatte ihm keine Details genannt und er hatte nicht weiter nachgefragt, aber wenn er in Mr Westcotts Gegenwart Andeutungen gemacht hatte … Nein. Sie würde sich hier nicht um Kopf und Kragen reden. Auch einer Angestellten stand eine gewisse Privatsphäre zu.
„Meine Gründe waren persönlicher Natur. Ich bin sicher, Sie verstehen das.“ Adelaide lächelte und hoffte, dass ihre Worte in seinen Ohren nicht so prüde klangen wie in ihren eigenen.
„Natürlich.“ Gideon streckte ihr die Hände mit offenen Handflächen entgegen, als akzeptiere er ihre Ausrede. Und dann berührte er sie. Sein Zeigefinger fuhr sanft über ihren Handrücken, sodass ein Schauder über ihren Arm lief. „Aber es erscheint mir nicht gerecht, dass ich Ihnen ein Stück meiner Lebensgeschichte preisgebe, ohne dass Sie sich revanchieren. Ich verspreche, dass ich alles, was Sie mir erzählen, streng vertraulich behandeln werde.“
Adelaide biss sich auf die Unterlippe. Er hatte sich ihr tatsächlich geöffnet. Sie wollte ihm auch etwas anbieten, vor allem in diesem Moment, in dem er sie so ansah, als halte sie allein den Schlüssel zu seiner glücklichen Zukunft in der Hand. Er fragte ja nicht nach viel, wollte nur eine Antwort auf seine Frage haben. Aber genau diese Antwort könnte sie um ihre Arbeitsstelle bringen.
„Es tut mir leid, Mr Westcott.“ Sie wandte den Blick ab und senkte ihn auf ihre Hände, die einander berührten. „Ich möchte keine Details erzählen. Aber ich versichere Ihnen, dass die Situation, die mich nach Fort Worth geführt hat, in keinster Weise mein Können und die Aufgaben beeinträchtigt, die Sie für mich haben.“
Er seufzte. „Na gut.“
Gideons ganzes Verhalten änderte sich plötzlich. Er wandte sich leicht von ihr ab und sein Lächeln wandelte sich zu einer höflichen Miene. Keine Grübchen. Kein Funkeln in den Augen. Kein neckendes Zwinkern. Er war wieder ganz der Farmbesitzer und Adelige.
Wieder durchfuhr Adelaide ein Schaudern – doch diesmal lag es nicht an ihrer Freude. Henry Belcher hatte sie mit süßen Worten und netten Gesten beeindruckt, um von ihr zu bekommen, was er haben wollte. War Gideon Westcott genauso?
„Also, Miss Proctor … zu Ihren Aufgaben.“
Erleichtert, dass ihr Arbeitgeber sich wieder an seine Rolle zu erinnern schien, setzte sie sich zurecht. „Ja, Sir?“
„Isabella ist ein sehr ruhiges Kind und das liegt nicht nur daran, dass sie einfach nicht sprechen will. Seit ihrem schrecklichen –“
„Entschuldigen Sie, aber sagten Sie gerade, dass sie nicht sprechen wolle?“ Adelaides Gedanken rasten. Wenn das Kind nicht wirklich stumm war, warum sprach es dann nicht? Hatte es Angst? War es stur? Krank?
Gideons Stimme unterbrach ihre Gedanken.
„Früher hat sie geplappert wie ein Wasserfall.“ Trauer trat auf sein Gesicht. „Ich vermute, dass es irgendetwas mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hat. Seitdem hat sie nicht ein einziges Wort gesprochen.“
Adelaide presste ihre Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. Es war Jahre her, dass ihr eigener Vater gestorben war, aber bis heute fühlte sie den Schmerz. Ihre Mutter hatte sie nie kennengelernt. Sie war für Adelaide immer nur die bildschöne Dame auf den Porträts im Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen. Anna Proctor war an einer Fehlgeburt gestorben, als Adelaide zwei Jahre alt gewesen war. Aber an den Tag, als ihr Vater gestorben war, konnte sie sich in jeder Einzelheit erinnern – genau wie an die Wut und Fassungslosigkeit, als Tante Louise sie nach Boston fortgeschickt hatte und sie alles Vertraute hinter sich lassen musste.
Alles außer Saba. Adelaide hatte sich geweigert, ohne ihr Fohlen zu gehen. Sie hatte jede Nacht im Stall geschlafen, bis Tante Louise schließlich zugestimmt hatte, das Pferd mitzuschicken. Der Verkauf der Ranch hatte sowohl für Sabas Unterbringung als auch für Adelaides Ausbildung zur Lehrerin gereicht. Für Notfälle stand ihr sogar noch eine ansehnliche Summe zur Verfügung. Doch auch wenn ihr Vater ihr ein Vermögen hinterlassen hatte, das so manchen englischen Adligen vor Neid erblassen lassen würde, hätte Adelaide alles hergegeben, um ihren Vater wieder lebendig zu machen.
Machte Isabella gerade das Gleiche durch? Wenn Gideon die letzten Jahre damit verbracht hatte, Schafe zu treiben, hatte er seine Frau und das Kind mit Sicherheit in England zurückgelassen. Er musste ein Fremder für seine Tochter sein. Isabella hatte ihre Mutter verloren – offenbar nicht nur der einzige Elternteil, den sie liebte, sondern auch der einzige, den sie wirklich gekannt hatte. Und als Krönung des Ganzen hatte man ihr auch noch die vertraute Heimat geraubt, die Freunde und Großeltern und das Haus, in dem sie bisher gelebt hatte. Kein Wunder, dass das Kind völlig verstört war.
„Miss Proctor, ich brauche Ihre Hilfe.“ Die Muskeln in Gideons Wangen zuckten, als seine dunklen Augen sie flehend musterten. „Sie zieht sich immer weiter in sich zurück. Ich habe große Angst, dass der Schmerz nie wieder verschwindet. Ich habe ihr Zeit zum Trauern gegeben, aber es kann doch nicht gut sein, wenn sie sich vollkommen darin zurückzieht. Ich möchte nicht, dass Sie sich nur um Isabellas Ausbildung kümmern, sondern dass Sie ihr helfen, ihre Lebensfreude zurückzugewinnen.“
Bewegt durch seine große Liebe zu dem Kind und den Schmerz, den die Kleine in sich tragen musste, erhob sich Adelaide und trat auf Gideon zu. Schnell sprang auch er auf, doch er schien ihr nicht in die Augen blicken zu können. Sie wusste, dass sie kein Recht hatte, ihn zu trösten, doch ihr Herz drängte sie dazu. Sanft legte sie ihre Hand auf seinen Arm.
„Ich weiß nicht, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin“, sagte sie leise, „aber ich werde alles daransetzen, Isabella zu helfen. Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen.“
Er sah ihr einige Augenblicke lang in die Augen, dann nickte er. „Ich danke Ihnen.“
Er trat einen Schritt zurück und räusperte sich. Als er sie wieder anschaute, war der Schmerz aus seinem Blick verschwunden. Er bedeutete ihr, mit ihm zur Tür zu kommen.
„Ich habe vor ein paar Wochen Schulbücher bestellt. Da ich nicht wusste, was benötigt wird, sagen Sie mir doch einfach Bescheid, wenn etwas Wichtiges fehlt.“ Er hielt seinen Blick starr nach vorne gerichtet. „Sie finden die Bücher im dritten Stock, zusammen mit anderen Utensilien. Richten Sie sich das Unterrichtszimmer so ein, wie Sie es gerne hätten.“ Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wippte hin und her. „Schauen Sie sich im Haus um. Lernen Sie Isabella kennen. Reiten Sie mit Ihrem Pferd durch die Gegend. Das hier wird von nun an Ihr Zuhause sein. Ich möchte, dass Sie sich wohlfühlen.“
„Danke, Mr Westcott.“
„Und halten Sie mich auf dem Laufenden, was –“
Ein hoher Schrei gellte durchs Haus. Der schmerzerfüllte Laut ließ sie beide erstarren. Auf Gideons Gesicht trat blanke Angst.
„Bella!“
Er rannte die Treppe hinunter, dem Geräusch der schrillen Kinderstimme nach. Adelaide folgte ihm auf dem Fuß.